Winterthur ist momentan ein interessantes Pflaster für Wohnexperimente. Die riesigen Brachen der Maschinenindustrie bieten die Möglichkeit, in grossen Zusammenhängen zu denken und Visionen zu verwirklichen, die über das Übliche hinausgehen.
In einigen Projekten sind die Mieterinnen und Mieter an der Planung beteiligt und nutzen den Spielraum, der sich ihnen bietet. Daraus entstehen Modelle des Zusammenlebens, die auf dem Markt kaum zu finden sind: Funktionale, soziale und räumliche Dichte treffen auf Engagement und Eigeninitiative.
Nachdem die Giesserei als Mehrgenerationenprojekt für Aufsehen gesorgt hat, zieht nun einmal mehr der 50.000 m2 grosse Lagerplatz die Blicke auf sich: das ehemalige Industrieareal, das die Stiftung Abendrot vor vier Jahren von der Firma Sulzer und der Post erwerben konnte (vgl. unten). Beispielhaft wird auf dem Areal vorgelebt, wie nachhaltige Projekte partizipativ entwickelt werden – bei einer Renditevorgabe von 7.5%. Die Projektentwicklung von unten wurde einst als Nische fÜr Freaks belächelt. Heute mausert sie sich zum rundum beachteten gesellschaftlichen Experiment.
Neue Nutzungen
Mit dem Studienauftrag wurde der südliche Abschluss des Areals gesucht. Das Gebäude schreibt sich in das Bebauungsmuster der Industriehallen ein und behauptet sich neben diesen mit seiner schieren Grösse. Dabei vereint das Gebäude auf sieben Stockwerken und einer Länge von knapp 130 m einen neuen und einen alten Nutzer des Lagerplatzes: Die ZHAW erhält im Sockel neue Labors und Büros, darüber werden Wohnungen für die Genossenschaft «Zusammenhalt» erstellt, die für ihre Mitglieder ein selbstbestimmtes Wohnen für die zweite Lebenshälfte anstrebt.
Die Mischung ist gewollt und passt bestens zur Entwicklung auf dem Lagerplatz: Der Anteil an Wohnungen auf dem Areal ist auf 35% beschränkt, und zahlreiche Klein- bist Kleinstunternehmen haben aus der Zwischennutzung heraus eine dauerhafte Bleibe gefunden. Der Lagerplatz wird immer wieder als «Biotop» beschrieben – und tatsächlich ist die Vielfalt an Nutzungen beachtlich für eine Stadt von der Grösse Winterthurs.
Hybrides Gebäude
Das lange und tiefe Haus trägt der doppelten Nutzung auf intelligente Weise Rechnung. Die zwei innen liegenden Stützenreihen bieten eine statische Grundstruktur mit genügend Spielraum für die unterschiedlichen Anforderungen: Sowohl die Labors finden darin Platz als auch unterschiedlich gross geschnittene Wohnungen (vgl. Schnittperspektive).
Die einzelnen Wohnungen sind klein gehalten, die Grundrisse pragmatisch und trotzdem sensibel entwickelt. Die Verfasser loten dabei die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit aus: Gemeinsam genutzte Terrassen und Vorbereiche bieten Einblick in die Wohnungen, Vorhänge verdecken die Sicht. Dies erlaubt den Menschen, die dort wohnen und arbeiten, gemeinsam aktiv zu werden und sich dennoch in ihr bescheidenes Reich zurückzuziehen.
Die Kassen und ihre Häuser
Rund 700 Mrd. Franken verwalten die Schweizer Pensionskassen. Einen Grossteil des Anlagevermögens investieren sie aus Tradition in Liegenschaften – unter den gegenwärtigen Investitionsmöglichkeiten sowieso. Das Resultat dieser Strategie lässt sich an den zahllosen uninspirierten Wohnanlagen im ganzen Land bestaunen, denn die Kassen fürchten nichts mehr als Experimente.
Die Stiftung Abendrot ist eine der wenigen Pensionskassen, die sich aktiv und mit viel Begeisterung um ihre Liegenschaften kümmert. Während die meisten Kassen fertig erstellte – am liebsten schon voll vermietete – Liegenschaften bevorzugen, sucht die Stiftung aus Basel den Dialog mit den zukünftigen Nutzerinnen und Nutzern, um passgenaue Gebäude zu erstellen. Diese müssen aber ihrer Philosophie entsprechen. Sie beschreibt, dass ihre Strategie «eine Anlagepolitik auf der Basis von ‹Gesundheit, Umwelt und Gerechtigkeit› verfolgt und damit bei jeder Anlage nicht nur Bonität und Rentabilität, sondern auch gesellschaftliche und ökologische Kriterien in den Vordergrund stellt».
Es ist der Stiftung hoch anzurechnen, dass sie den Begriff der Nachhaltigkeit nicht auf die Fragen der Energie beschränkt, wo die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft den Takt vorgeben. Die Verträglichkeit für die Stadt ist ihr ebenso ein Anliegen wie die Rendite für ihre Versicherten. Dies hat sie im Wettbewerb für einen Neubau auf dem ehemaligen Industrieareal in der Zürcher Binz bewiesen (vgl. TEC21 44/2013). In Winterthur doppelt sie nach: Der Gestaltungsplan für den Lagerplatz unterschreitet auf ihr Anliegen hin die minimale Anzahl der Parkplätze um die Hälfte (350) und beschränkt den Anteil des Wohnens auf rund ein Drittel. Man kann sich kaum eine andere Pensionskasse vorstellen, die nicht nur freiwillig ihre Investitionsmöglichkeiten einschränkt, sondern auch dem Umfeld ihrer Siedlungen einen Bonus bieten möchte. Das Interesse daran ist aber keinesfalls uneigennützig. Indem die Stiftung Rücksicht auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nimmt, steigert sie auch die Attraktivität ihrer Gebäude. Und geschäftet damit sehr erfolgreich: Die Performance betrug gemäss eigenen Angaben Ende November 5.083 %, der Deckungsgrad lag bei 106.5 %. Das sind Zahlen, die sich sehen lassen können. Offensichtlich ist die aktive und demokratische Partizipation an Projekten nicht nur ein wichtiger Faktor für den Erfolg von Investitionen, sondern auch für die Entwicklung einer Stadt. Erst mit dem Engagement aller Beteiligten wandelt sich der mittlerweile ziemlich abgenutzte Begriff «Nachhaltigkeit» von einem verkaufsfördernden Label und Feigenblatt zu einem echten Inhalt mit gesellschaftlicher Relevanz. Dafür braucht es einen Investor mit langem Atem, Visionen und viel Dialog – wir hören gern weiterhin zu.
Teext: Marko Sauer, Architekt