In Zürich sind die meisten verlassenen Industrieareale schon längst überbaut. Am Bodensee ging diese Entwicklung langsamer vor sich, und so war in Arbon an bester Lage noch ein Areal von 200000 m² Grösse frei – mit denkmalgeschützen Hallen und gleich neben Bahnhof und See.
Die HRS Real Estate hat es im März 2012 von OC Oerlikon erworben, zu der die Saurer AG gehört. Um die Qualität der ersten Etappe zu sichern, hat der Investor einen geladenen Wettbewerb für zwei der insgesamt elf Baufelder durchgeführt.
Für die Baufelder D und F waren Wohnhäuser gesucht, die eine Balance finden zwischen den Hallen und den feinkörnigen Quartieren der Nachbarschaft. Für weitere Baufelder war die mögliche Entwicklung aufzuzeigen.
Grossformatige Strukturen
Das Projekt von burkhalter sumi gliedert die Baufelder mittels jeweils paarweise angeordeter Zeilen. Es ist schlüssig, wie die kompakten, grossformatigen Gruppen die Struktur des Areals übernehmen.
Auf dem Baufeld D sind schmale, lange Häuser vorgesehen, auf dem Baufeld F zwei tiefere Zeilen und ein geschlossener Block mit Innenhof. Die nördlichen Zeilen krönt jeweils ein Attikageschoss, das mit den darunter liegenden Wohnungen verbunden ist.
Die Grundrisse passen sich den unterschiedlichen Gebäudetiefen der Häuser an. Die schmalen Häuser des Baufelds D siedeln den Wohnbereich entlang der Südfassade an, hinter der Erschliessungsschicht liegt der Nachtbereich. Auf dem Baufeld F bringen die Architekten durch Vor- und Rücksprünge Licht in die Mittelzone.
Zwischen die engen Schotten des Blocks pressen sich schlauchartige Wohnungen; die eigenwilligen Proportionen erinnern an die Durchschusswohnungen der Unités d’Habitation. Im Block konzentriert sich die im Gestaltungsplan des Areals vorgeschriebene gewerbliche Nutzung.
Ein Park bildet die Grenze zum feinmassstäblichen Bestand im Westen, die Innenhöfe der beiden Zeilenpaare sind duch eine Mauer vom öffentlichen Raum getrennt. Im Erdgeschoss dieser Höfe vermischen sich privater und gemeinschaftlicher Aussenraum: Kniehohe Mauern sollen die beiden Bereiche voneinander trennen, was im Moment noch sehr zaghaft wirkt.
Kollektiver Raum
Einen anderen Weg bestreitet das Büro von Anne Lacaton und Jean-Pierre Vassal aus Paris. Es ist bekannt dafür, dem Programm eines Wettbewerbs auf den Grund zu gehen und kein Patentrezept aus der Schublade zu ziehen: so auch in Arbon.
Der Entwurf konzentriert sich darauf, das abgeschottete Areal wieder an die Stadt anzubinden. Die Architekten aktivieren dafür den Aussenraum und öffnen die Innenhöfe der blockrandartig ausgebildeten Häuser.
Das Grün gleitet unter den Gebäuden hindurch und setzt den Park grosszügig bis tief in das Areal fort. Im Schnitt zeigt sich dieser Raum: Er verspricht ein lebhaftes Durcheinander von Wohnen, Gewerbe und Freizeit, steht er doch der ganzen Stadt offen. Die Verfasser postulieren, lieber gemeinsam einen grossen Park zu nutzen als allein ein kleines Beet zu besitzen.
Dieselbe Haltung prägt auch die Grundrisse, die um eine grosszügige Wohnhalle herum organisiert sind. In ihr wird gekocht, gearbeitet und gewohnt. Die Gemeinschaft steht im Mittelpunkt, die Schlafzimmer sind klein. Dieses Verständnis von Wohnen sprengt bürgerliche Vorstellungen – im Kontext der Sieldung ein konsequenter Schritt, denn wer den Aussenraum kollektiv nutzt, wird auch die Kommunikation innerhalb seiner Wohnung schätzen.
Als Folge sind die Nebenräume knapp bemessen und erscheinen schlicht, bisweilen gar karg: Die Badezimmer sind Nutzräume und keine Wellness-oasen, die Küche steht als einfache Zeile an der Wand. Dies vermittelt ein ungewohntes Bild, sind doch Küchen und Nasszellen mittlerweile zum Statussymbol geworden.
Verpasste Chance
Dieser Ansatz durchdringt alle Dimensionen des Projekts: vom Städtebau über den Zuschnitt der Wohnungen bis zu deren Ausstattung. Das hat auch die Jury bemerkt. Der Bericht lobt das Projekt überschwänglich. Wieso ist es nicht auf dem ersten Platz gelandet? War die Vision einer kollektiv organisierten Bewohnerschaft dann doch zu progressiv für die Ufer des Bodensees?
Es ist schade, dass das Experiment nicht gewagt wird. Unter dem Blickwinkel von Suffizienz und sozialer Nachhaltigkeit hätte die Überbauung von Lacaton Vassal einige Erkenntnisse liefern können. Denn die Mässigung in den einzelnen Wohnungen geht mit einem reichen kollektiven Raum einher. Der zweite Rang deutet darauf hin, dass diese Option ernsthaft erwogen wurde und durchaus Chancen hatte.
Die Jury scheint der Mut auf halbem Weg verlassen zu haben. Der Investor hat seine Verantwortung für diesen Teil des Areals wahrgenommen und muss nun beweisen, dass er bereit ist, das hohe Niveau zu halten. Denn auf der anderen Seite der Gleise plant die HRS zwei Gebäude mit biederen Grundrissen, bei denen lediglich die Sicht auf den Bodensee begeistert.
Text: Marko Sauer, Architekt